Fühlt sich an, als hätten wir gerade erst angefangen

Eine Reportage über Pico Duarte Teil 1

Als mein Wecker an diesem Morgen um 4:30 Uhr klingelt, trifft es meinen Körper so unvorbereitet, dass ich gleich hellwach bin, aus dem Bett springe und ins Bad taumle. Eine halbe Stunde später habe ich die letzten Sachen in meinen großen Wanderrucksack gestopft und helfe den Chesneys, unsere sechs kleinen Tonnen und sonstige Gepäckstücke in den wartenden Van zu stopfen. Wenig später geht es los. Die Gemüter wechseln zwischen Müdigkeit und Aufregung. Betsy erzählt uns schmunzelnd, wie ihr jüngster Sohn nach dem Aufwachen als allererstes „Pico!“ gerufen hat. Ich versuche etwas zu schlafen, aber das Geholper auf der schlechten Straße von Jarabacoa nach La Ciénega verhindert es erfolgreich. Gegen viertel vor sieben stehen wir alle mitsamt unserem ganzen Gepäck etwas planlos auf dem Parkplatz beim Nationalparkbüro. Wo ist unser Guide? Wo sind die Mulis? Es ist kalt. Ein Teil der Gruppe kramt schon mal Mützen und Jacken hervor. Kaum zu glauben, dass wir immernoch in der Karibik sind. Endlich kommt unser Head-Guide. Mon ist ein älterer Mann mit einem freundlichen Lächeln und ruhigem Gemüt. Auf den ersten Blick kann man gar nicht glauben, dass er hauptberuflich Gruppen auf den höchsten Berg der Karibik führt. Dort bringt er auch uns heute hin. Nun ja, nicht genau heute, aber im Laufe dieser fünf Tage. „Wir laden noch Gepäck auf die Mulis. Geht ruhig schon mal vor“, sagt er, nachdem wir die Nationalparkgebühr von 100 Pesos bezahlt haben. Wir sehen ihn etwas beunruhigt an. Wie, schon mal vorgehen? Wofür bezahlen wir schließlich unsere drei Guides? Von unserer neunköpfigen Gruppe war nur einer schon mal auf dem Pico Duarte gewesen: der fünfzehnjährige Josiah. Außerdem sind da noch die wenig jüngeren Matthew und David, der erste ein weiterer Sohn der Chesneys und der zweite ein dominikanischer Kumpel von ihm, die mit der Schule schon mal einen Teil des Weges bis zur Abzweigung zum Valle de Tetero gegangen sind. Aber wenn der Guide meint … Angeblich kann man sich nicht verirren, da es nur einen Pfad den Berg hoch gibt. Dennoch sind wir am Anfang etwas nervös, vertrauen aber auf die Erinnerung von Josiah. Hinter dem Nationalparkbüro überqueren wir eine Brücke über einen Fluss und betreten den Beginn des Pfades. Die ersten zwei Stunden führen uns relativ flach über einen breiten Weg am Fluss entlang. Dichter Regenwald wechselt sich mit Bambus ab. So ähnlich stelle ich es mir in Asien vor, denke ich und überlege, wie der Bambus wohl hierhergekommen ist. Wächst der hier natürlich oder wurde er eingeführt und hat sich unkontrolliert ausgebreitet? Ich tippe auf letzteres, werde es aber wohl nie genau wissen. Wir schreiten motiviert aus. Wenn der Weg so bleibt, wird das ein Kinderspiel. Natürlich bleibt er nicht so. Irgendwann schrumpft der Weg plötzlich zusammen und kriecht steil einen Hang hoch. „Jetzt geht es los!“, rufen die Kinder und wir Erwachsenen sehen uns etwas enttäuscht an. War wohl nichts, mit dem gemütlichen den Berg hoch laufen. Aber für eine Bergbesteigung sind wir schließlich gekommen und das wochenlange Training soll ja auch für etwas gut gewesen sein. Also rauf da!

Hoch erheben sich die Wände des steilen Pfades

Hoch erheben sich die Wände des steilen Pfades

Es geht auf und ab und über mehrere Brücken. Die etwas rutschigeren Stellen lassen wir gemeinsam mit den ersten Höhenmetern hinter uns. Es ist jetzt nicht mehr so kalt, aber dank des bewölkten Himmels auch nicht karibisch-heiß. Der Pfad gräbt sich in den roten, lehmigen Boden, bis sich bis zu zwei Meter hohe Wände an den Seiten erheben. Ich bin froh, dass es nicht nass ist, sonst wäre dieser Aufstieg wohl eine reine Schlammpiste, die den Berg hoch mäandert. Immer wieder eröffnet sich ein atemberaubender Ausblick vor uns. Unten im Tal können wir einen Teil von La Ciénega sehen, der immer weiter unter uns zurückbleibt. Kaum zu glauben, wie weit wir schon gelaufen sind. Gegen zehn Uhr kommen wir an der Stelle an, wo wir zu Mittag essen wollten. Wir kommen gut voran, wie uns auch unsere Guides versichern, die irgendwann mit den Mulis überholt haben. Einer von ihnen bleibt meisten mit den zwei Reitmulis hinter uns, der „Ambulancia“, wie Mon sie genannt hat. Falls einer von uns sich verletzt, bringt ihn so ein Maulesel sicher ins Tal zurück. Von unserer Gruppe werden sie aber fast nur verwendet, um müde Beine auszuruhen. Zehn Uhr erscheint uns jedenfalls noch zu früh zum Essen und da der nächste Stopp nur 500 Meter entfernt ist, entschließen wir uns, noch bis dorthin zu laufen. Erleichtert lassen wir uns dann auf Bänke fallen und mampfen unsere PB&J ( = Peanut Butter and Jelly, also Erdnussbutter mit Marmelade, in meinem Fall aber getrennt 😉 ) Sandwiches bzw. Wraps und/oder Äpfel. Betsy hatte die geniale Idee, statt stangenweise Toast einfach mehrere Packungen Tortilla-Wraps mitzunehmen – die sind leichter, zerquetschen nicht und nehmen viel weniger Platz weg.

Irgendwo dort unten im Tal sind wir losgelaufen.

Irgendwo dort unten im Tal sind wir losgelaufen.

Während wir zu Mittag essen, traut sich schließlich doch jemand, zaghaft nachzufragen: „Haben wir jetzt ungefähr die Hälfte geschafft?“ Nein, lautet die brutale Antwort, gerade mal ein Drittel. Wir sind alle mehr oder weniger entgeistert und nehmen stöhnend die nächsten zwei Drittel in Angriff. Wer auch immer behauptet hat, der erste Tag sei der schwerste, hat nicht gelogen. Wenigstens sind wir alle ungefähr auf dem gleichen Fitnesslevel, so dass niemand sehr zurückfällt. Am fittesten ist sowieso der achtjährige Peter, der die ganze Zeit in der vordersten Gruppe mitrennt und die Esel beizeiten nur reitet, weil es ihm so viel Spaß macht. Die Guides sind beeindruckt, die uns für ihn noch einen extra Esel hatten aufschwatzen wollen. Anna, die ich erst für den Trip kennengelernt habe, und ich laufen am Ende der Gruppe mit. Alle paar Kurven bleiben wir kurz stehen, um, wie wir immer wieder grinsend unterstreichen, „die Aussicht zu bewundern“. Ich bin fasziniert, wie diese häufig allerhöchstens eine Minute dauernden Pausen meine Beine beruhigen und mir neue Kraft geben. Die nächste längere Pause machen wir bei „El Cruce“, der Abzweigung zum Valle de Tetero. Wir nehmen den rechten Pfad und gehen weiter den Berg hinauf. Von dort kommen uns zwei Schwedinnen entgegen. Ob wir denn nun die Hälfte geschafft hätten? – Hhm ja, könnte ungefähr hinkommen. Am Ende ginge es fast nur noch runter. Aber vorher müssten wir noch die nächsten Stunden überstehen, da komme nämlich der schwerste Abschnitt. Anna schielt sehnsüchtig zu den Reitmulis. Ich frage mich, wie ich das überstehen soll. Bei unserer Mittagspause sind die Guides mit den Packeseln schon früher aufgebrochen mit den Worten, sie wollen sich beeilen, sodass sie rechtzeitig bei den Hütten ankommen, falls es zu regnen beginnt. Zu dem Zeitpunkt haben wir uns dabei noch nichts gedacht. Aber als beim letzten Drittel des Weges (dem schwersten Teil) dunkle Wolken am Himmel aufziehen, fangen wir doch an zu denken: Wenn erfahrene Guides sagen, sie wollen sich beeilen für den Falle eines Regenschauers, sollten wir uns vielleicht auch ein bisschen ins Zeug legen. Wenn bloß dieser Berg endlich enden würde. Jedes Mal, wenn wir sagen, das sehe doch aus wie der Gipfel, dahinter ginge es bestimmt endlich runter, taucht ein neuer Berghang auf. Jake erzählt uns von der Macht des Geistes und wie man, wenn man nur fest genug daran glaubt, die Anstrengungen und Schmerzen vergessen kann. „Fühlt sich an, als hätten wir gerade erst angefangen“, wird so zum Leitspruch unserer Wanderung. Für einen kurzen Moment hilft es, dann mache ich den Fehler, den Berg hinaufzuschauen und meine Augen erfassen die unendlich erscheinenden Kurven, mit denen der Pfad sich dort hinauf schlingt und in den vorbeiziehenden Wolken verschwindet.

Im Nebelwald ...

Im Nebelwald …

Irgendwann geschieht das Wunder und es wird flacher. Ich habe den langsamsten Teil der Gruppe hinter mir gelassen und den schnelleren noch weit vor mir. Für einen kurzen Moment laufe ich alleine. Vor kurzem sind wir in die Wolken eingetaucht, die wie Nebel zwischen den Pinienbäumen wandern. Es ist gespenstisch still. Der typisch dominikanische Lärm der dröhnenden Motorräder und schallenden Musik liegt weit hinter und unter mir. Nicht einmal die Gespräche und Schritte meiner Begleiter kann ich mehr hören und auch der Wind ist verstummt. Einzig und allein der leise Gesang von Kolibris begleitet mich. Vor mir erheben sich einsame, majestätische Bäume aus dem Weiß, das den Abgrund auf meiner rechten Seite vollständig verhüllt. Ich bin in eine andere Welt eingetaucht und bleibe für einen Moment ehrfürchtig stehen, um die magische Stille im Nebelwald auf mich wirken zu lassen. Dann holt Anna mich ein und der Zauber entflieht lautlos. Unser nächster Treffpunkt ist die Quelle des Flusses Yaque del Sur, einer der längsten der Dominikanischen Republik. Der Nebel hat sich etwas gelichtet, dafür haben uns Krähen eingeholt. Mit ihrem heiseren Krächzen scheinen sie uns davor warnen zu wollen, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Gruselig, findet Matthew und auch ich kann nicht verhindern, an einen Horrorfilm erinnert zu werden. Meine Beine würden der Drohung der Krähen gerne Folge leisten, aber mein Geist möchte weiter. Der letzte Abschnitt ist eine Erleichterung, er geht fast flach weiter und dann 45 Minuten fast nur noch runter. Als wir um eine Kurve gehen und einen ersten Blick auf die Hütten von „La Compartición“ erhaschen, ist die Erleichterung groß. Es dauert nicht mehr lange und wir stehen keuchend und mit Beinen wie aus Zement in einer großen, leeren Hütte. Isomatten ausgebreitet, Hängematten festgezurrt, Schlafsäcke hervorgezerrt, eine Portion Reis mit Bohnen und Salat verdrückt. Zähne putzen, das Plumpsklo aufsuchen, Schlafsachen, zwei Pullis, die gleiche Anzahl Socken überziehen, in den Schlafsack kriechen und gute Nacht. Es ist zwar erst 6:30 Uhr, aber wen kümmert’s? Nach 18 Kilometern Fußmarsch in neun Stunden keinen mehr.

Hier geht es zum 2. Teil, in dem wir den Pico Duarte besteigen.

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